Marx lebt    

 

Marx am Nachmittag  

(...)   Die Antwort liegt auf der Hand: Das kommt davon, daß der Kapitalismus gesiegt hat. Der Traum von der ganz anderen Politik wird nur noch in einigen Ecken der SPD geträumt, sagt die FAZ. Seither ist alles, wie es ist. Da kann man nichts machen. Oder nur Reformen, die im Stau stecken, obwohl das Benzin, sagt Herr Hintze ("Sind die Leute eigentlich so, weil sie so aussehen, oder sehen die Leute so aus, weil sie so sind?") so super billig bleiben soll, daß kein deutsches Lenkrad mehr stillsteht. 

Aber zur Sache. Die Jugend, das habe ich neulich an einem dieser endlosen, milchtrüben Hamburger Nachmittage ("Was die Welt verändert", sagt Einar Schleef, "kommt immer aus der Verzweiflung") persönlich recherchiert, die Jugend ist mit alledem durchaus nicht einverstanden. Der Philosophen- auf dem Uni-Campus stand in strengen Wolken, drinnen drängte das junge Volk in den Hörsaal G, die Jungs alle im praktischen Kapuzenhemd, die Mädels mit Hochfrisur und Mamas Fönhaubenclip am Scheitel, kaum einer über Dreißig. 

"Ist der Marxismus noch aktuell?" Das war die Frage, in großen Lettern warb sie auf allen Stromkästen zwischen Eppendorf und Eimsbüttel für die Zusammenkunft. Ein junger Mann begrüßt uns, die wir alle aufgrund der "ganzen Misere, die uns wohl bewußt ist  hier sitzen" und bittet Flo, einen anderen jungen Mann, der soviel Jahre zählen mag, wie er Ringe an den Fingern trägt, um sein Referat. "Schaust du dir die letzten fünfzig Jahre an", beginnt Flo seine Ausführungen, "siehst du, wie der Kapitalismus sich durchsetzt als ein Weltphänomen." Und das, sagt Flo, "führt tendenziell ins Chaos". Nichts funktioniert, sagt Flo, es gibt keine Planung zwischen den "Kapitaleinheiten", auch das "Ziel" der Produktion liegt zwar in allen Schaufenstern, aber sonst so ziemlich im dunkeln. 

Die Ideen, die "von oben runterkommen", helfen den jungen Leuten im Hörsaal G da auch nicht weiter. Die Marktwirtschaft finden sie "totalitär", und lieber heute als morgen möchten sie "gemeinsam die Gesellschaft leiten", alles gerecht verteilen, den Marxismus, den die Stalinisten und die Opas von 68 versaut haben, "wieder urbar machen für neue Generationen". Die einfachen Antworten eben. Draußen hat sich schon lange die eisvogelgraue Hamburger Dämmerung auf Porsche und Strauch gelegt, drinnen glühen die Wangen über der Frage, ob der Kapitalismus zum Menschen gehört wie seine Nase oder doch eher wie der Ring, an welchem man ihn an derselben herumführt. 

Gestärkt und erwärmt, zuckelt der ältere Mensch auf dem Fahrrad nach Hause. Dem Marxismus geht es offenbar nicht viel anders als dem Fönhaubenclip: Gute Erfindungen sind einfach nicht totzukriegen. 

IRIS RADISCH in der ZEIT vom 26. März 1998