Lenin lebt     1 

 

Wiedergeburt Lenins und Jesu  

(...)   Da die erhebende und tröstende Gemeinschaft in der Kirche für viele das Wichtigste ist, kann das russische Christentum an seinen Rändern immer wieder Erscheinungen einer sykretistischen Stammesreligion hervorbringen und den Priestermörder Lenin und Jesus Christus als Leitsterne miteinander vermählen, wie es Kommunistenführer Sjuganow in seinen Reden gerne tut. In den zwanziger Jahren wurden in Rußland Volkslegenden über Lenin aufgezeichnet, die christliche mit heidnischen Motiven mischten. Demnach lenkt der von Gottes Gnade beschützte Lenin in Moskau auf einer hohen Säule stehend die Weltgeschicke, oder er läßt einen Freund erschießen, der das Volk mißhandelt - aber nicht ohne sich von ihm liebevoll mit einem Kuß zu verabschieden.
Heute ist in Wolgograd eine Sekte tätig, die mit den Reinkarnationen von Lenin und Jesus in Kontakt zu sein behauptet. Der wiedergeborene Jesus soll gegenwärtig ein fünfundzwanzig Jahre altes Mädchen sein, Lenin noch ein kleines Kind. Aufgrund der Anweisungen Jesu und Lenins hat die Sekte die Organisation der "Kosmischen Kommunisten" gegründet, die weder Fleisch noch Fisch essen, am Tag zweimal eiskalt duschen und zehn Liter geheimnisvoller "Energie" verbrauchen. Ihr Gebet lautet: "Erdenmenschen, erhebt euch! Christus weist euch Lenins Weg."

Kerstin Holm  in der FAZ-Beilage BILDER UND ZEITEN vom 11. April 1998  (Magie, Ritual und Wunderglaube. Die russisch-orthodoxe Kirche, ein Bollwerk gegen die moderne Welt

Rückblick: Trotzkys rote Parade (1923)

Am untern Ende des Platzes strahlt die Sankt-Basilius-Kathedrale mit ihren elf bemalten und vergoldeten Kuppeln, und eine von ihnen scheint sich plötzlich loszureißen und himmelwärts zu fliegen - (...) Trotzky ruft den Eid Satz für Satz, und die 40 000 Stimmen sprechen ihn im Chore nach, Silbe für Silbe, wie mit einer einzigen gemeinsamen Riesenstimme:
"Ich, Sohn des arbeitenden Volkes und Bürger der Sowjet-Republik, nehme den Namen eines Soldaten im Heer der Arbeiter und Bauern an. (...) Ich verspreche, daß ich nie einen Schritt unternehmen werde, der eines Bürgers der Sowjet-Republik unwürdig ist, und daß ich alle meine Gedanken auf das große Ziel richten will: alle Arbeitenden zu befreien. (...)
Wenn ich mich gegen dieses mein heiliges Versprechen versündige, so will ich von allgemeiner Verachtung und den härtesten Strafen des revolutionären Gesetzes getroffen werden ..."

Als der Eid abgelegt ist, gratuliert Trotzky den Soldaten  (wie wenn Christen sich nach dem Abendmahl Glück und Segen wünschen) ...
Und über der höchsten Kuppel, hoch gegen den schwarzen Nachthimmel trifft ein Scheinwerfer die rote Flagge, die ihre Falten wie ein ständiger Strom rinnenden Blutes im Winde bewegt."

Zitate aus dem "Russischen Tagebuch" des dänischen Publizisten Anker Kirkeby, erschienen in DIE WELTBÜHNE, Dezember 1923.